Bis
1945:
Die offizielle Bezeichnung der hier vorgestellten Anlage lautete Luft-Hauptmunitionsanstalt
4/XI Oerrel. Die römische Ziffer XI steht für das Luftgaukommando XI, beheimatet
in Hannover, später Hamburg. Der größte Teil des heutigen Niedersachsen
gehörte zu diesem Gau. Gebräuchlich war die Kurzbezeichnung Muna Oerrel.
Der
kleine Ort Oerrel liegt 7 km südöstlich der Stadt Munster. Die Muna begann
am westlichen Rand des Dorfes und dehnte sich fast 3 km Richtung Westen
aus. Hier befindet sich ein dichtbestandenes Waldgebiet, das gute Tarnung
gegen Luftaufklärung bot. Am Westrand führt die Eisenbahnstrecke von
Munster nach Beckedorf vorbei, heute zur Osthannoverschen Eisenbahn gehörig.
Dieses war seinerzeit für Bau und Betrieb einer Munitionsanstalt eine
grundlegende Voraussetzung.
Der Raum Munster entwickelte sich schon früh zu einem Zentrum
der Kampfstoff-Produktion und -Forschung. Bereits Anfang 1916 begann
der Aufbau des „Gasplatz Breloh“. Das Objekt sollte der Herstellung von
Kampfstoffmunition dienen. Die Produktionsanlagen waren, weit abseits
von Wohnbebauung, im Gebiet der Hatzseen angesiedelt, heute auf dem Truppenübungsplatz
Munster-Nord liegend. Auf weiteren Teilflächen des Platzes wurden die
Erprobung dieser Munition und die Ausbildung der Soldaten für den Einsatz
durchgeführt. Die Einrichtung entwickelte sich zum größten Hersteller
von Kampfstoffmunition während des I. Weltkrieges. Sie lieferte rund
ein Viertel der gesamten vom Militär Deutschlands und seinen Verbündeten
angeforderten Kampfstoffmunition. Insbesondere in den Grabenkämpfen an
der Westfront kam diese massiv zum Einsatz.
Am Ende des Krieges befanden sich große Mengen Kampfstoffmunition in
Munster. Die Mengen stiegen weiter an, da man nicht verwendete Kampfmittel
von der Front zurück lieferte. Am 24. Oktober 1919 kam es zu einem großen
Unglück. In einer Werkstatt der Anlage brach ein Feuer aus. In der Folge
explodierte eine große Menge Sprengstoff und Granaten. Dieses führte
zur Zerstörung eines weiten Teils der Anlagen des Gasplatzes. Es ergab
sich eine großflächige Kontamination des Geländes mit Munition und Kampfstoffen.
1925 hat man auf Veranlassung der Siegermächte die meisten restlichen
Bauten abgerissen.
Kurz nachdem die Nationalsozialisten Anfang 1933 die Macht
in Deutschland übernommen hatten, begannen sie eine massive Aufrüstung.
Dabei sollte auch Kampfstoffmunition wieder hergestellt werden. 1935
erfolgte die Einrichtung der „Heeresversuchsstelle Raubkammer“. Gleichzeitig
entstand der Truppenübungsplatz Munster-Nord, der ausschließlich der
Heeresversuchsstelle dienen sollte. Diese belegte wieder Objekte, die
schon zuvor entsprechend genutzt worden sind. Es kamen aber auch zahlreiche
neue Einrichtungen hinzu. Die Dienststelle war im Schwerpunkt für die
Erprobung zuständig. Dazu kam die Herstellung der eigentlichen Kampfstoffe
in geringen Mengen für die Forschung. Auch die Erprobung von Maßnahmen
gegen Kampfstoffe wurde in Munster betrieben. Das Spektrum reichte von
passiven Mitteln, wie Gasmasken, bis zur aktiven Dekontamination.
Die Mehrzahl der hiesigen Einrichtungen, die im Zusammenhang mit den
Kampfstoffen standen, gehörte zum Heer. Am Ostrand der Stadt Munster
richtete man die Heeres-Munitionsanstalt Munster-Ost ein. Deren Füllstelle
wurde über 2 km abgesetzt aufgebaut, zum Teil auf der Fläche des früheren
Klopper-Werkes.
Auch die Luftwaffe war in Munster für das Thema mit einer eigenen Dienststelle
präsent. Die „Erprobungsstelle Munster-Nord“ testete Kampfstoffbomben
und -geschosse, sowie Kampfstoffsprühbehälter. Sie hatte eine Liegenschaft
östlich an die Füllstelle des Heeres angrenzend, im Bereich des früheren
Lost-Werkes. Flugzeuge konnten für Erprobungen vom Feldflugplatz Kohlenbissen
starten, der 3 km nordwestlich von Oerrel lag.
Die Luft-Hauptmunitionsanstalt 4/XI Oerrel ist ebenfalls für
Befüllung und Lagerung von Kampfstoffmunition eingerichtet worden. Neben
dieser gab es von der Luftwaffe nur noch im sächsischen Mockrehna eine
weitere LHMa mit Kampfstoff-Füllanlage.
Baubeginn in Oerrel war ca. 1935. Am Westrand des Dorfes entstand der
Verwaltungsbereich mit Wache, Kommandantur, Unterkünften, Werkstätten,
Garagen und der Feuerwache. Hier waren die meisten Bauwerke mit Backsteinen
gemauert. Die Mehrzahl ist eingeschossig ausgeführt gewesen. Einzelne,
wie die Kommandantur, wiesen zwei Geschosse auf. Die Fertigstellung verzögerte
sich bei manchen Bauten anscheinend deutlich. Die Kommandantur konnte
bis zum Kriegsende nicht vollendet werden. Daher nutzte man für diese
Aufgabe die ehemalige Besserungsanstalt im Dorf. Weitere Funktions- und
Unterkunftsbaracken standen über die Siedlung Oerrel verteilt.
An den Verwaltungsbereich schloß der Lagerbereich an, der sich in fünf
räumlich getrennte Bezirke aufteilte. Verglichen mit anderen Hauptmunitionsanstalten
zeigen Karten und Luftbilder, soweit ermittelbar, eine höhere Anzahl
Munitionsbunker und eine geringere Anzahl Lagerhäuser. Es wurden bis
zu 150 Lagerbunker errichtet. Wie für alle LHMa war auch hier die Bauweise
MLH 30 t üblich. Dieses bezeichnet standardisierte Munitionslagerhäuser
mit einer nominellen Lagerkapazität von 30 t Explosivstoff. Sie verfügten
über einen Innenraum von 250 m² und hatten an der Vorderseite zwei Tore.
Die Bauten waren üblicherweise mit Backsteinen gemauert, und hatten eine
Decke aus Stahlbeton. Grundsätzlich sollten sie mit einer Erdüberdeckung
versehen werden, auf die Bäume gepflanzt wurden. Damit hätten die Bauten
eine gute Tarnung gegen Fliegersicht erhalten. Allerdings sind in Oerrel,
Luftbildern von 1945 nach zu urteilen, viele Munitionshäuser ohne Erdüberdeckung
geblieben, bei weiteren ist diese nicht bepflanzt worden. Üblicherweise
gab es diese Bunker ebenerdig stehend, sowie erhöht, mit einer Verladerampe
davor. Einzelne mit Verladerampe standen direkt an einem Eisenbahngleis.
Von den kleinen Zünderhäusern konnten 12 ermittelt werden, dieses entspricht
dem Standard der Luftwaffen-Munitionsanstalten. Sie verfügten über lediglich
50 m² Nutzfläche, hatten nur ein Tor und ebenfalls eine Erdüberdeckung.
Ergänzend kamen mehrere Lagerhäuser hinzu. Darunter fünf von außergewöhnlicher
Größe.
Für die Kampfstoffmunition war eine besondere Füllanlage erforderlich.
Diese siedelte man im südwestlichen Bereich der Liegenschaft an. Sie
bestand aus nur wenigen Bauten. Bei Preuss/Eitelberg heißt es, daß diese
Objekte in Oerrel und Mockrehna von der Bauart her wesentlich einfacher
ausgeführt waren als die Füllstellen in Heeres-Muna. Die Ausstattung
der Anlage wurde von der auf das Thema spezialisierten Firma Orgacid
bzw. später Lonal aus Ammendorf in Sachsen-Anhalt geliefert.
Der Fertigungsprozeß von Kampfstoffmunition bestand aus drei Hauptschritten:
Der Vorbereitung, der Abfüllung und der Fertigstellung. Dafür standen
getrennte Gebäude zur Verfügung. Die genaue Zuordnung der einzelnen Bauten
kann für Oerrel mangels Daten nicht benannt werden. Es gibt aber Angaben
zur vergleichbaren Anlage in der LHMa Mockrehna.
Auf Luftbildern ist in der Südwestecke der Muna Oerrel das Entgiftungs-
und Wohlfahrtsgebäude zu erkennen. Gleich östlich davon befand sich wohl
das Kampfstofflager, in dem Tanks für die Bevorratung der Kampfstoffe
standen. Mit Kesselwaggons wurden die Stoffe von darauf spezialisierter
chemischer Industrie angeliefert. Ein Gleis führte durch den vorderen
Teil des Kampfstofflagers, dort konnten die Waggons entladen werden.
Weiter Richtung Osten sind drei Gebäude in Reihe zu erkennen. Diese können
die drei zuvor genannten Arbeitstakte abbilden. Im Leerhülsenlager wurden
die Bombenkörper gereinigt und für die Befüllung vorbereitet. Anschließend
gingen die Körper weiter in das Misch- und Abfüllhaus. Hier sind die
geforderten Kampfstoffe in die Bomben eingebracht worden. Dabei hat man
teilweise die reinen angelieferten Sorten verfüllt, es gab aber auch
Mischungen unterschiedlicher Kampfstoffe sowie die Beimengung anderer
Zusatzstoffe. Abschließend ging es in das Lager für verfüllte Geräte
und die Fertigmachung. Hier erfolgte eine Prüfung auf Dichtigkeit, anschließend
die farbliche Markierung entsprechend der enthaltenen Kampfstoffe. Auch
das Einbringen einer Sprengladung und des Zünders hat man hier durchgeführt.
Die drei Bauwerke waren in Mockrehna mit einer Hängebahn verbunden. Daran
wurden die Bombenkörper aufgehängt und durch die Takte verschoben. Für
Oerrel ist die Nutzung der gleichen Technik naheliegend.
Weitere Bauwerke sieht man im benachbarten Umfeld. Wahrscheinlich ist
ein Verwaltungsgebäude vorhanden gewesen. Und vermutlich auch ein Neutralisationsgebäude
mit Chemikalienlager für die erste Behandlung der im Fertigungsprozeß
angefallenen Abwässer, was wohl hauptsächlich durch Zufügen von Kalkmilch,
Natronlauge und Chlor geschah.
Hauptsächlich hat man in der Muna Oerrel Bomben der Kategorien KC 50,
KC 250 und KC 500 befüllt. KC steht für Kampfstoffbombe Cylindrisch,
die Zahlen geben das Gesamtgewicht in Kilogramm an. Die Alliierten haben
die am Kriegsende aufgefundene Munition erfaßt. Die Menge wird mit maximal
131.218 Bomben angegeben. Aufgeteilt auf folgende Kampfstoffsorten:
- Augenkampfstoffe (Weißkreuz)
- Weißkreuz 2 = Reizstoff mit tränenerregender
Wirkung
- Nasen- und Rachenkampfstoffe (Blaukreuz)
- Blaukreuz 2 = Clark (Chlor-Arsin-Kampfstoff)
II – Reizstoff mit lungenschädigender Wirkung
- Blaukreuz 3 = Adamsit – Reizstoff mit lungenschädigender
Wirkung
- Lungenkampfstoffe (Grünkreuz)
- Grünkreuz 2 = Phosgen oder Perstoff – Kampfstoff
mit atemwegsschädigender Wirkung
- Grünkreuz 3 = Tabun – Kampfstoff mit rückenmarks-
und nervenschädigender Wirkung
- Hautkampfstoffe (Gelbkreuz)
- Gelbkreuz 1 = Winter-Lost – Kampfstoff mit hautschädigender
Wirkung
- Gelbkreuz 2 = Zäh-Lost – Kampfstoff mit hautschädigender
Wirkung
Neben den Bomben wurde vermutlich auch Munition im Kaliber
2 cm mit Zäh-Lost hergestellt, die von den Bordwaffen der Flugzeuge abgefeuert
werden konnten.
Ein weiterer Produktionsbereich der Muna Oerrel befand sich
abgesetzt vom Kerngelände noch westlich der Eisenbahnstrecke. Hier war
eine Brandbomben-Füllstelle angesiedelt. Der große Abstand von über 500
m zu den übrigen Produktions- und Lagerstätten wurde sicherlich aufgrund
der Feuergefährlichkeit der verarbeiteten Stoffe gewählt.
Das Objekt verfügte über eine eher kleine Grundfläche von gut 200 m Länge
und 50 m Breite. Der nordwestliche Rand war als Verladerampe ausgebildet,
an der ein Gleisanschluß entlang führte. Ein weiteres Gleis auf der Ebene
diente anscheinend der Heranführung von Kesselwaggons. Ein Luftbild zeigt
lediglich ein Arbeitsgebäude mittlerer Größe. Der Rest war Freilagerfläche.
Aufgrund der geringen Infrastruktur wurden eventuell nur leichtere Brandbomben
hier befüllt. Bauten für Vor- und Nachbereitung größerer Bomben sind
nicht erkennbar. Die gesamte Füllstelle hat man später mit auf Ständern
hochgesetzten Tarnmatten gegen Fliegersicht abgeschirmt.
Nur gut 200 m südöstlich der Brandbomben-Füllstelle befand
sich seinerzeit der Dethlinger Teich. Dieser war ursprünglich eine Abbaugrube,
aus der ab 1923 Kieselgur gewonnen wurde. Bereits drei Jahre später ist
der Betrieb wieder eingestellt worden. Danach lief die fast 10 m tiefe
Grube mit Grund- und Regenwasser voll, der Teich war entstanden. Seine
Oberfläche hatte einen Durchmesser von rund 60 m. Ab Betriebsaufnahme
der Muna Oerrel sind deren Abwässer in den Dethlinger Teich entsorgt
worden. Zwischen Teich und Eisenbahn zeigen Luftbilder drei Sickerbecken,
die vermutlich der Abwasserreinigung dienten. Das dritte Becken hatte
eine Ablaufrinne in den Teich. Dadurch ergab sich dementsprechend eine
Vergiftung des Gewässers. Zu der Zeit hat man auf diese Aspekte nur wenig
geachtet. So soll bereits zu der Zeit sogar der Kampfstoff von undichten
Bombenkörpern direkt in den Teich entsorgt worden sein.
Das gesamte Gelände der Muna wurde durch ein umfangreiches
Straßennetz erschlossen. Wie eingangs erwähnt, hatte insbesondere die
Anbindung an die Eisenbahn seinerzeit große Bedeutung. Mehrere Gleise
führten in den Bereich mit den Munitionsbunkern. Die Kampfstoff-Füllanlage
und die Brandbomben-Füllstelle waren ebenfalls auf der Schiene erreichbar.
Die Anstalt verfügte über eine eigene Rangierlokomotive der Bauart WR
220B.
Für das Stammpersonal, wie Feuerwerker, und dessen Familien hat man eine
kleine Wohnsiedlung am Nordrand von Oerrel errichtet. Davon abgesetzt
wurde ein Wohnhaus für den Kommandanten gebaut. Im Wald nördlich vom
Verwaltungsbereich ist mit Baracken ein Arbeitslager zur Unterbringung
von 200 Arbeitskräften eingerichtet worden. In der Aufbauphase der Muna
werden hier nicht ortsansässige Bauarbeiter untergekommen sein, später
die in der Anstalt Beschäftigten. Üblicherweise wird das Personal zum
Teil aus Deutschen aus der Umgebung und dienstverpflichteten aus anderen
Regionen Deutschlands bestanden haben. Wer nicht im Umfeld wohnte, kam
im Arbeitslager unter. Im Verlauf des Krieges hat man in steigender Zahl
Arbeitskräfte aus den von Deutschland besetzten Ländern eingesetzt. Konnten
Arbeiter zunächst noch auf Basis der Freiwilligkeit angeworben werden,
wurde später immer mehr Zwang ausgeübt. Schließlich stellten die Fremd-
und Zwangsarbeiter die Mehrheit der Arbeitskräfte. Eine Quelle besagt,
daß im Lager Oerrel am Ende des Krieges Ukrainer untergebracht waren.
Die Betriebsaufnahme in Oerrel soll erst 1941 erfolgt sein.
Die Anstalt arbeitete bis zum Kriegsende ohne größere Störungen. Obwohl
den Alliierten der Standort bekannt war, erfolgten keine Luftangriffe.
Dieser Umstand war in fast allen Objekten dieser Kategorie gegeben. Zum
Schutz gegen Tiefflieger sind im Umfeld der Liegenschaft mehrere hohe
Türme in Holzbauweise aufgestellt worden. Auf diesen fanden leichte Flak
im Kaliber 2 oder 3,7 cm Platz.
Wie bekannt, hat die Wehrmacht über die gesamte Kriegszeit keine Kampfstoffmunition
eingesetzt. So blieben die produzierten Bomben in den Oerreler Lagerbunkern
oder wurden in weitere Muna ausgelagert.
Grundsätzlich erging an alle Munitionsanstalten bei Annäherung
der gegnerischen Truppen ein Befehl zur Zerstörung aller Betriebsteile.
In Oerrel ist jedoch nichts in der Art passiert, sicherlich aufgrund
der gefährlichen Einlagerung. Lediglich Unterlagen hat man vernichtet.
Auch den kämpfenden Deutschen Bodentruppen wurde mitgeteilt, daß der
Raum Munster aus dem gleichen Grund nicht verteidigt werden soll. So
konnte am Kriegsende die Muna Oerrel unversehrt an die Briten übergeben
werden.
Am 16. April 1945 trafen Teile des britischen „Inns of Court Regiment“
als Truppe der 11th Armoured Division in Oerrel ein. Die Besetzung des
Dorfes erfolgte ohne Widerstand. Damit endete der II. Weltkrieg für den
Ort.
Ab 1945:
Den Briten war die Existenz der Kampfstoffe im Raum Munster schon vor
Kriegsende bekannt. Nun war eines ihrer Interessen, die deutschen Entwicklungen
zu erkunden. In Munster trafen Kampfstoffspezialisten aus dem südenglischen
Porton Down ein. Sie führten bis Spätherbst 1945 auf dem Truppenübungsplatz
entsprechende Versuche durch.
Anschließend begann eine erste Vernichtungsaktion. Aufgrund der riesigen
Mengen an Giftstoffen ist das für die Briten eine besondere Herausforderung
gewesen. Die Entsorgung wurde nach den damals üblichen Methoden durchgeführt,
aus heutiger Sicht wäre diese Vorgehensweise undenkbar.
Vom 6. Oktober bis 21. November 1945 sind auf dem TrÜbPl Munster-Nord
4.000 t Kampfstoffe vernichtet worden, darunter befanden sich nach einer
Quelle 15 t, nach einer anderen Quelle 200 t aus Oerrel. Man hat die
Kampfstoffe in offene Wannen gekippt und nach Hinzufügen von Benzin abgebrannt.
Dadurch ergaben sich weiträumig Schäden in der Vegetation, die über viele
Jahre anhielten. Auch die folgenden Sprengungen von Anlagen in Munster-Nord
und weitere Entsorgungsaktionen ergaben nachhaltige Schäden. Bis heute
sind mehrere größere Flächen des Truppenübungsplatzes dauerhaft für den
Übungsbetrieb gesperrt.
Aus der Muna Oerrel hat man die transportierbaren Bomben auf
Züge verladen und nach Emden und an die Ostseeküste verbracht. Die Kampfmittel
sind in der Nordsee bei Helgoland und in der Ostsee bei Dänemark verklappt
worden. Nicht transportfähiges wurde in großer Anzahl in den Dethlinger
Teich geworfen, darunter Zündladungen und Fässer mit Kampfstoff. Auch
aus dem Umfeld der Heeresversuchsanlage Munster kamen weitere Schadstoffe
in den Teich, insbesondere Kampfstoffgranaten. Von 1950 bis 1953 führte
das Bombenräumkommando des Landes Niedersachsen Entgiftungsarbeiten im
Raum Munster durch. Auch dabei sind noch Stoffe in den Dethlinger Teich
entsorgt worden. Man hat nur lückenhaft Aufzeichnungen über die Entsorgungen
geführt. Daher konnte später niemand die versenkten Kampfmittel genauer
beziffern.
Später nutzten Anwohner aus der Umgebung die Gelegenheit und bargen Metalle
aus dem Teich, um sie zu verkaufen. Diese Arbeiten waren natürlich lebensgefährlich.
Um dem Treiben ein Ende zu setzen, ließen die deutschen Behörden 1952
den kompletten Teich mit Trümmern und Schutt aus der Muna Oerrel zuschütten.
Anschließend wurde die Fläche bepflanzt, das Problem verschwand somit
für Jahrzehnte aus dem Blickfeld. Allerdings war den lokalen Stellen
klar, daß von den nunmehr vergrabenen Schadstoffen eine Gefahr ausging.
Insbesondere das Grundwasser konnte die Gifte weiter transportieren.
So wurden 1957 am ehemaligen Teich Meßbrunnen gebohrt, die der Probenentnahme
dienten.
In der Muna Oerrel erfolgte Ende der 1940er Jahre die Sprengung von Funktionsgebäuden
und Munitionsbunkern. Über viele Jahre blieben Trümmer und Ruinen auf
dem Areal. Erst Anfang der 1970er Jahre sind die Reste weitgehend beseitigt
worden. Auch eine Bereinigung von Kampfmitteln hat man in der Zeit durchgeführt.
Einzelne Bauten blieben stehen. Werkstätten und Garagen konnten einer
zivilen gewerblichen Nutzung dienen. Die ehemalige Feuerwache wurde zum
Heim des örtlichen Sportvereins. Kommandantur, Wache und Häuser in der
Muna-Siedlung dienten fortan als Wohnraum.
Nachdem 1955 der Aufbau der Bundeswehr startete, hat man zahlreiche
ehemalige Wehrmachts-Anlagen als Standorte für neue Garnisonen, Depots
und weitere Objekte herangezogen. In Oerrel kam es jedoch nicht zu einer
neuen militärischen Nutzung. Da bereits das benachbarte Munster mit mehreren
neuen Kasernen zu einem Großstandort der Bundeswehr aufwuchs, gab es
für Oerrel sicherlich keinen weiteren Bedarf. Die Briten blieben, schließlich
als NATO-Partner, im Umfeld stationiert. Die ehemalige Heeresversuchsstelle
in Munster wurde zur Kaserne Dennis-Barracks ausgebaut.
Nach der Kaiserlichen Armee 1916 und der Wehrmacht 1935 ist 1958 auch
die Bundeswehr wieder in Munster im Thema Kampfstoffe aktiv geworden.
Wieder im Bereich der schon zuvor entsprechend genutzten Flächen, nahe
den Hatzseen, entstand eine neue Liegenschaft. Diesmal allerdings mit
anderen Aufgaben. Nun ging es um die Erforschung und Erprobung von Maßnahmen
gegen die Kampfstoffe. Durch die fortschreitende Waffen-Entwicklung mußte
das Spektrum auf weitere Themen ausgedehnt werde. Die Bedrohung lief
nun unter der Bezeichnung „ABC-Abwehr“, die Abkürzung steht für atomare,
biologische und chemische Kampfmittel. Diese Dienststelle der Bundeswehrverwaltung
erfuhr im Laufe der Zeit mehrere Umbenennungen, die grundsätzlichen Aufgaben
blieben aber weitgehend die gleichen. Hieß es bei Gründung „Erprobungsstelle
der Bundeswehr für ABC-Schutz“, wechselte es 1962 in „Erprobungsstelle
53“, 1975 in „Wehrwissenschaftliche Dienststelle der Bundeswehr für ABC-Schutz“,
und schließlich 1995 in das noch heute gültige „Wehrwissenschaftliches
Institut für Schutztechnologien - ABC-Schutz“.
1981 ist bei der „WWDBw ABC-Schutz“ eine erste Verbrennungsanlage für
schädliche Sonderabfälle in Betrieb genommen worden. Hier konnten nun
endlich Kampfstoffe bei bis zu 1.000° C in einfache Verbrennungsprodukte
abgebrannt werden. 1997 wurde als Firma der Bundesrepublik Deutschland
die Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten
mbH (GEKA) gegründet. Sie ist seitdem die Betreiberin der Verbrennungsanlagen.
Diese hat man schrittweise erweitert. Noch im Jahr 1997 kam ein zweiter
Verbrennungsofen zum Abbrennen von verseuchten Böden hinzu. Schließlich
entstand 2006 als drittes ein Sprengofen, in dem nicht zerlegte Munition
mit einer Sprengmasse von maximal 2,3 kg TNT direkt verbrannt werden
kann. Die Existenz dieser Anlagen sollte auch für das Umfeld der Muna
Oerrel noch von Vorteil sein.
Wie oben erwähnt, hatte man über viele Jahre giftige Schadstoffe
in den Dethlinger Teich entsorgt. Das Problem war durch das Zuschütten
natürlich nicht gelöst. 1975 wurden weitere Meßstellen im Umfeld der
Fläche eingerichtet. 1988 hat das Land Niedersachsen eine erste Erfassung
von Rüstungsaltlasten durchgeführt. Bereits da ist der Dethlinger Teich
genannt worden. Aber über Jahrzehnte folgten keine Maßnahmen, die eine
Bereinigung gebracht hätten. Lange Zeit wurde befürchtet, daß eine Bergung
der Stoffe technisch nicht beherrschbar sei. So hat man lediglich weitere
Meßstellen niedergebracht. 2009 sind diese modernisiert worden, da die
bisherigen Ergebnisse zu ungenau waren. Die Prüfungen ergaben den Nachweis
von Schadstoffen, wie Arsen, Lost und Clark.
Erst 2014 begann die Erstellung einer Machbarkeitsstudie, ob und wie
die Kampfmittel geborgen werden können. Am 27. September 2019 begann
die Öffnung der Fläche zur Einbringung eines Schachtes mit einem Durchmesser
von 3,5 m. Über ihn konnte erstmals eine Erkundung der Gegebenheiten
im Untergrund durchgeführt werden. Die Arbeiten fanden nun nach aktuellen
Standards des Umwelt- und Arbeitsschutzes statt. Die Sicherheit der Arbeiter
und der Umgebung hatte höchste Priorität. Ein Schutzzelt schirmte den
Schacht ab, sowohl gegen die äußeren Einflüsse des Wetters als auch zur
Sicherung gegen das Austreten von Schadstoffen in die Umwelt. Die Bergung
mußte in Handarbeit durchgeführt werden, nur eine Arbeitskraft durfte
sich dazu im Schacht befinden. Aufgefundene Materialien verlud man in
versiegelte Container, um sie anschließend über abgesperrte Straßen knapp
10 km zur Verbrennungsanlage der GEKA nach Munster-Nord zu transportieren.
Der Grundwasserpegel bereitete schon bald Probleme. Zur Abhilfe wurde
im Januar 2020 ein zweiter Schacht gegraben. Nun konnte wechselseitig
geborgen und abgepumpt werden. Das Grundwasser ist für eine Untersuchung
und anschließenden Entsorgung in Tanks zur GEKA transportiert worden.
Ende Februar 2020 endete die Bergung von Material. Bis dahin wurden 2.552
Granaten gefunden. Dieses ergab 33 t Munition, die rund 2,8 t Kampfstoffe
und ca. 780 kg Sprengstoff enthielt. Dazu kamen rund 200 t Erdboden und
Bauschutt sowie 15.000 t Wasser. Alles hat man der GEKA zur Entsorgung
zugeleitet. Anhand dieser ersten Aktion wurde die Machbarkeit einer vollständigen
Sanierung des Dethlinger Teiches festgestellt.
Inzwischen laufen vor Ort die vorbereitenden Arbeiten. Das bisherige
Verfahren des Abtransportes des abgepumpten Grundwassers kann für die
große Öffnung nicht fortgeführt werden. Daher hat man vor Ort eine Grundwasserreinigungsanlage
aufgebaut, die seit Mai 2022 in Betrieb ist. Über die gesamte Fläche
des ehemaligen Teichs wird eine Leichtbauhalle gesetzt. Darunter soll
die komplette Fläche abgegraben werden, eine Aktion, die mehrere Jahre
beanspruchen wird.
Zustand:
Im ehemaligen Verwaltungsbereich der Munitionsanstalt Oerrel und der
Wohnsiedlung sind noch heute mehrere historische Gebäude aufzufinden.
Die Bauweise läßt meist die Herkunft eindeutig erkennen. Dagegen ist
im Gebiet der Lagerbunker nur noch sehr wenig erkennbar. Die Bilder
auf dieser Seite zeigen die verbliebenen Spuren. Von der Brandbomben-Füllstelle
zeugt eine lange Verladerampe. Das Umfeld des früheren Dethlinger Teiches
wird nach Abschluß der Sanierung keine historischen Spuren mehr zeigen.
Zugang:
Fast die gesamte Fläche der früheren Munitionsanstalt Oerrel ist frei
zugänglich, ausgenommen die Privatgrundstücke. Der
Bereich des Dethlinger Teiches ist für die Entsorgung der Altlasten
weiträumig gesperrt, das schließt auch die benachbarte frühere Brandbomben-Füllstelle
mit ein.
Hinweis:
Bei Geschichtsspuren.de widmet sich eine Seite der Munitionsanstalt Oerrel:
https://www.geschichtsspuren.de/artikel/ruestungsproduktion-lagerung-versorgung/42-lufthauptmunitionsanstalt-5xi-oerrel.html
Die Freiwillige Feuerwehr Oerrel zeigt diverse Bilder aus der Geschichte
des Dorfes, einschließlich der Muna:
https://oerrel.feuerwehr-munster.de/---unser-oerrel--frueher---heute.html
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Blick
aus der Vogelperspektive mit Google Maps:
Fotos:
Blick vom Dorf Oerrel Richtung Kohlenbissen, links das Wachgebäude.
Hier befand sich seinerzeit das Haupttor der Muna.
Die Rückseite der Wache.
Die Kommandantur verfügte über zwei Geschoße.
Der Bau soll bis Kriegsende nicht fertiggestellt worden sein.
Die meisten Bauten in diesem Bereich waren in Backsteinbauweise ausgeführt.
Repräsentatives Eingangsportal.
Abgang zum Kellergeschoß.
Da die Kommandantur nicht vollendet wurde, saß die Verwaltung im Dorf
Oerrel in der ehemaligen Besserungsanstalt.
Ein Betriebsgebäude neben den Werkstätten.
Eine historische Werkstatt.
Der frühere Garagenhof blieb erhalten.
Vier Funktionsbauten bildeten den Garagenhof.
Durch gewerbliche Nutzung konnten diese bis in die Gegenwart überdauern.
Der vierte Bau auf dem Garagenhof.
Die Feuerwache der Muna wurde zum Heim des örtlichen Sportvereins.
Blick von der Seite.
Ein für Militäranlagen typischer Hydrant blieb stehen.
Links dieses Weges standen hintereinander die Bauten der Kampfstoff-Füllanlage.
Bodenplatte des Kampfstofflagers.
Einzelne spezielle Kacheln zeugen vom Kampfstofflager.
Ein Betonpfeiler beim Kampfstofflager.
Nur geringe Fragmente bei der Kampfstoff-Füllanlage.
Eine kleine Erhöhung zeigt den Standplatz der ehemaligen Entgiftung.
Meßstelle im Umfeld der Kampfstoff-Füllanlage.
Dieser Erdhügel blieb nach dem Abriß eines MH 30 t übrig.
Blick von der anderen Seite auf das ehemalige Munitionshaus.
Weiterer Hügel eines MH 30 t.
Nur an wenigen Stellen ist noch Beton erkennbar.
Sichtbar ist die äußerste Schicht der Außenwand, dahinter war in großer
Wandstärke mit Steinen gemauert.
Die Wand war die Vorderseite eines MH 30 t.
Überwachsene Spuren eines weiteren MH 30 t.
Hier schaut die Seitenwand eines Zuganges aus der Erdaufschüttung.
Abgerundeter Beton am Standort eines MH 30 t.
Kleiner runder betonierter Schacht.
Nur an wenigen Stellen sind noch größere Betontrümmer zu finden.
Massive Betonplatten können die Reste der Bunkerdecke sein.
In diesem Fall sind die Steine einer gemauerten Wand zu erkennen.
Von den kleinen Zünderhäusern blieben nur entsprechend kleine Hügel übrig.
Ein Lagerhaus hat nur geringe Spuren hinterlassen.
Auf den drei Sockeln stand früher eine hölzerne Tafel für Feuerlöschgerät.
Möglicherweise eine Sprenggrube zur Entsorgung kleiner Zündmittel.
Ein altes Schild warnte vor Hohlräumen.
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